Sonnenschein und blauer Himmel. Heute am Sonntagmorgen, den 15. Januar 2023, was für ein Geschenk nach dem gestrigen Regentag! Es war ein Samstag mit Windböen und Dauerregen und ein besonderer Samstag. In der Presse wurde von Eskalationen rund um Lützerath berichtet. Was war los? Und was hat es mit dem kleinen Dörfchen auf sich? Warum geben sich viele Menschen nicht damit zufrieden, dass RWE 2030 aus der Kohle aussteigt? Wir brauchen diese doch, weil wir ansonsten Energieengpässe erleben werden. Keiner von uns will im Kalten sitzen und frieren. Ich auch nicht. Also ist es doch logisch, weiter auf die Braunkohleförderung zurückzugreifen. So wird in der Öffentlichkeit argumentiert.
Ich selbst bin durch meine Freundin, die im Grenzgebiet lebt, auf die Thematik aufmerksam geworden. Sie schickte mir Informationen zum Thema zu. Ich entschied mich, die Großdemonstration für die Erreichung der Klimaziele in Deutschland zu unterstützen. Früher in der ehemaligen DDR musste (!) ich an den Mai-Demonstrationen teilnehmen. Gestern habe ich mich zum ersten Mal freiwillig entschieden, auf die Straße zu gehen und war aufgeregt, weil viele mich fragten: „Ist das nicht gefährlich?". Im Fernsehen wurden Bilder gezeigt, die diese Fragen füttern. Es gab Ausschreitungen am Rande der Großdemonstration. Diese spiegeln jedoch nicht wieder, was ich erlebt habe.
Es war nicht leicht zum Ausgangspunkt, dem Dörfchen, Keyenberg, zu gelangen. Wie viele andere auch nahmen wir einen Fußmarsch durch den aufgeweichten Boden in Kauf. Dieser führte am Camp der Aktivisten vorbei. Dieses steht mitten im Schlamm und ich frage mich, wie man mit so viel Nässe klarkommt. Das Camp ist gut organisiert, einfach und funktional. Einfache Fahrradständer aus Holz parken die einzigen Fortbewegungsmittel.
Wir, Freunde und ich, zogen mit dem Strom Richtung Keyenberg. Vor mir hielt sich ein älteres Ehepaar an den Händen. Die roten Regenstiefel der Frau waren ein schöner Farbklecks auf dem schlammigen und von tiefen Pfützen gesäumten Weg. Der kleine Hund an der Leine war mit einem Mantel vor dem Regen geschützt. Ich blickte um mich und sah in junge und alte Gesichter. Der Strom bewegte sich langsamer. Er wurde immer größer. Wie eine Ameisenstraße bewegten sich Menschen zum Hügel links neben dem Feldweg, von dem aus die Zerstörung von Lebensraum zu sehen war. Der Hauptstrom hielt Kurs auf Keyenberg. Langsam ging es weiter, begleitet von Pauken und Trompeten: „Köln“ war dabei und Menschen aus ganz Deutschland. Ich hörte auch Englisch und Niederländisch. Alle gingen für Veränderungen, für ein Umdenken und vor allem Handeln - für unser Leben. Neben mir tauchte eine Familie mit Kindern auf. Das Jüngste wurde im Tragtuch von der Mama gestillt. Ist das verantwortungslos, mit Kind und Kegel zu einer Demonstration zu gehen? Die Kinder waren gut geschützt vor Wind und Regen und ihre Eltern wollen sie vor weiterer Umweltzerstörung schützen. Ich sah immer mehr junge Familien. Langsam bewegten wir uns weiter. Über uns kreiste die ganze Zeit ein Hubschrauber. In der Ferne sah ich eine Polizeistaffel auf Pferden und ein paar wenige Polizeieinsatzwagen sowie den Kirchturm von Keyenberg. Der bunte Strom erreichte den Dorfeingang und ich sah heruntergelassene Rollläden. Überall. Keyenberg scheint verlassen. Nur wenige Dorfbewohner haben dem Kampf standgehalten. Ich sehe auf dem Weg am Straßenrand zwei bewohnte Häuser. Ansonsten gleicht Keyenberg einem Geisterdorf. Hinter jeder Tür steckt eine Geschichte und doch sind die verlassenen Häuser ohne Leben. Ich habe viele Fragen. Wie fühlt es sich an, umgesiedelt zu werden? Wie ist es möglich, dass in einer Zeit, in der Wohnraum knapp ist, Dörfer abgerissen werden? Die Bewohner wurden entschädigt. RWE hat das Dorf gekauft, um auch hier Kohle abzubauen, um unsere Energieversorgung zu sichern. Doch hierzu gibt es auch andere, unabhängige Forschungsberichte, die belegen, dass unsere Kohlevorräte ausreichend sind. Wir gingen immer weiter, langsam Schritt für Schritt und kamen an der Kirche vorbei. Ich hörte, dass Keyenberg nicht abgerissen werden wird. Die Proteste haben dazu geführt. Was passiert jetzt mit dem Dorf? Dürfen die Bewohner zurück? Oder gibt es andere Pläne? Viele offene Fragen, die unbeantwortet bleiben. Der Regen lies nicht nach. Trommeltöne und Sprechgesänge wechselten sich ab, ganz so als ob so die Häuser belebt werden sollten. Es war skurril. Einerseits sind die Häuser menschenleer und andererseits waren hier bestimmt noch nie so viele Menschen im Dorf. Friedlich zogen wir weiter zur Hauptbühne, die auf freiem Feld außerhalb ca. 500 Meter vom Dorf stand. Als wir aus dem Dorf kamen, sah ich, dass von überall noch mehr Menschen Richtung Hauptbühne zogen. Alle Feldwege waren in Bewegung. Trotz Regen und Windböen waren Menschen unterwegs. Ich bewunderte die, die auf Gehilfen kamen oder im Rollstuhl sitzen. Die Demonstranten waren ein Spiegel unserer Gesellschaft und lebten Verbundenheit. Und das gab Hoffnung. Was für ein Gefühl! Es ist nicht in Worte zu fassen. Ich fühlte die Nässe , die durch die Regenkleidung kriecht nur ansatzweise. Mein Herz war berührt und wärmte mich von innen. Wir bildeten eine Rettungsgasse für zwei Krankenwagen die Richtung Lützerath fuhren. Dort, vor dem Zaun vor dem Dorf, kam es zu Auseinandersetzungen. Davon habe ich abends zu Hause im Fernsehen gehört. Die Kundgebung selbst fand zwischen Keyenberg und Lützerath statt, friedlich und ohne Eskalationen. Die Veranstalter hatten mit 10.000 Menschen gerechnet. Es waren viel mehr. Welche Zahl stimmt? 15.000 heißt es laut Polizei. Die Veranstalter sprechen von 35.000. Was stimmt ist: Es waren sehr viele, mehrere Tausend, und diese waren friedlich unterwegs. Nur Vereinzelte versuchten, die Polizeiketten zu durchbrechen. Leider wurde in der Öffentlichkeit der Fokus auf diese wenigen gelenkt und von Eskalation in Lützerath gesprochen. Das führte dazu, dass Freunde sich um mich sorgten und fragten, ob es mir gut ginge. Das zeigt, wie wichtig es ist, sich zu belesen und nicht alles für gegeben hinzunehmen. Schreckensnachrichten lassen sich besser verkaufen und führen zu höheren Einschaltquoten. Wir haben die Wahl, worauf wir unseren Fokus lenken und gestalten damit unsere Realität. Diese ist immer von Polaritäten geprägt und dazwischen gibt es Farbnuancen. Es gibt nicht nur schwarz oder weiß. Gerade habe ich im Radio gehört, dass Tausende gestern friedlich demonstrierten und es am Rande zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten kam. Das klingt doch schon mal anders als Überschriften wie „Eskalationen in Lützerath!“.
Wir müssen nicht darüber debattieren, dass Handlungsbedarf besteht. Unsere Umwelt verändert sich. Sie braucht uns nicht. Wir Menschen brauchen eine gesunde und natürliche Umwelt zum Leben und nicht noch mehr Umweltzerstörung. Wir regen uns auf, dass der Regenwald abgeholzt wird. Der ist weit weg. Doch wir sollten alle vor unserer eigenen Tür kehren. Ich hätte mir gewünscht, dass RWE einlenkt. Was wäre das für Image-Gewinn nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.
Ich kam gestern hoffnungsvoll nach Hause und war wütend, als mir mein Mann von der Berichterstattung erzählte. Das war meine Motivation, heute am Sonntag, über meine Lützerath - Erfahrung zu schreiben. Mein Fazit: Ich habe mich die ganze Zeit sicher gefühlt, verbunden und war tief berührt und bin dankbar in einer Demokratie zu leben, die ein hohes Gut ist. Politisch aktiv zu sein, ist auch gewaltfrei möglich!
Ich wünsche Dir morgen einen guten Start in die neue Woche mit viel Achtsamkeit. Nicht alles ist so, wie es scheint.
Liebe Grüße von Deiner Susann
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Patricia (Montag, 16 Januar 2023 14:25)
Gut, zu wissen, wie es aus deiner Sicht war. Danke für den Beitrag!